Martin Rösel, «Wie einer vom Propheten zum Verführer wurde. Tradition und Rezeption der Bileamgestalt», Vol. 80 (1999) 506-524
The article attempts for the first time to trace the tradition of the seer Balaam (Num 2224) with the aid of questions asked by reception history. In contradistinction to previous works it becomes clear in this way that the differing positive or negative presentation of the figure of Balaam in texts dependent on Num 2224 can be explained above all by the attitude of the relevant recipient to the problem of the foreign in relation to the people of God. It becomes apparent that the method of reception history presents a significant supplement to exegetic tools, that makes possible fresh historical insights into the content and effect of biblical texts.
Die historische Verortung dieser Entwicklung ist beim gegenwärtigen Stand der Forschung kaum sicher durchzuführen. Sicher scheint mir zu sein, daß man die bis in die jüngere Zeit hinein vorgeschlagenen Datierungen von einzelnen Grundbestandteilen von Num 2224 auf die vorstaatliche oder frühe Königszeit nicht mehr halten kann25. Die Inschriften aus Deir (Alla können nur einen ungefähren Anhaltspunkt geben, da man zwar die konkrete Niederschrift der Texte im 9./8. Jh. fixieren kann, aber völlig auf Vermutungen angewiesen ist, was das Alter dieser Bileam-Tradition angeht26. Dennoch scheint es mir am sinnvollsten, kurz danach, also um 700, die Übernahme der Bileam-Tradition nach Israel zu vermuten. Dafür sind zwei Überlegungen ausschlaggebend: Zum einen lassen sich in dieser Zeit die Anfänge der schriftlichen Fixierung von prophetischen Sprüchen sichern. Die Bestätigung der Unheilsweissagungen gegen das Nordreich durch den Fall Samarias und die Heilsgewißheit Zions nach der wundersamen Verschonung vor den Truppen Sanheribs waren wohl die wichtigsten äußeren Gründe dafür.
Wichtiger noch scheint mir ein weiterer Gedanke: Veranlaßt durch die politisch-militärischen Ereignisse der Zeit ist offenbar die Frage nach dem Verhältnis des eigenen Volkes zu den Nachbarvölkern theologisch bedeutsam geworden. Davon zeugen etwa der Grundbestand der Völkersprüche des Amos oder vergleichbare Weissagungen bei Jesaja. Durch den Untergang des Nordreiches wird sich die Überlegung, daß die fremden Mächte als Werkzeug Gottes agieren, geradezu aufgedrängt haben. Daher mag es zur selben Zeit auch problemlos möglich gewesen sein, die in der unmittelbaren Nachbarschaft umlaufende Tradition eines fremden Sehers aufzugreifen, der, vergleichbar Hosea oder Amos, dem eigenen Volk Unheil ansagte. Daß dies in der Konsequenz als Heilsansage für Israel auszulegen ist, belegt das vierte Orakel eindeutig27, dies mag auch die Übernahme der fremden Tradition erleichtert haben.