Martin Rösel, «Wie einer vom Propheten zum Verführer wurde. Tradition und Rezeption der Bileamgestalt», Vol. 80 (1999) 506-524
The article attempts for the first time to trace the tradition of the seer Balaam (Num 2224) with the aid of questions asked by reception history. In contradistinction to previous works it becomes clear in this way that the differing positive or negative presentation of the figure of Balaam in texts dependent on Num 2224 can be explained above all by the attitude of the relevant recipient to the problem of the foreign in relation to the people of God. It becomes apparent that the method of reception history presents a significant supplement to exegetic tools, that makes possible fresh historical insights into the content and effect of biblical texts.
Dieses Urteil ist aber einzuschränken. Denn es ist auch deutlich geworden, daß es den ursprünglichen Text Num 2224 eigentlich nicht gibt. Bereits die ältesten greifbaren biblischen Belege greifen ihrerseits auf vorhandene Traditionen zurück, die uns nur durch einen Zufallsfund aus dem jordanischen Deir (Alla bekannt sind. Erkennbar wurde auch, daß in der heutigen Endgestalt des Textes die fremdenfeindliche Bileamdeutung zumindest in der Eselin-Episode angelegt ist. Im Text durchaus latent enthaltene Aspekte können also unter veränderten Verstehensbedingungen das Gesamtverständnis in problematischem Ausmaß dominieren.
Die rezeptionsgeschichtliche Fragestellung eröffnet demnach vertiefte historische Einsichten in die Wirkung eines Textes und erschließt damit Aspekte von Sinn, die dem oder den ursprünglichen Autoren nicht bewußt waren. Damit gehört diese Methodik zur historischen Auslegung der Texte wie der folgenden Traditionsstufen hinzu; sie kann die späteren Verstehensversuche erklären und ggf. kritisieren55.
Im konkreten Falle von Num 2224 ist aus heutiger Sicht klar, daß der Ausleger Anwalt des Textes und seines historisch erhobenen ursprünglichen Sinns sein sollte56. Es mag m.E. eben nicht jeder die Sache so betrachten, wie er will, auch wenn dies vielleicht zur Indifferenz des gegenwärtigen Zeitgeistes passen würde. Gerade das Thema der Fremdenfeindlichkeit macht ja deutlich, daß es Grenzen für die Beliebigkeit gibt. In diesem Sinne ist es gut, daß gerade der erste Prophet der Bibel ein Ausländer war, daß die Redaktoren des Pentateuch diese umstrittenen oder unbequemen Stellen nicht einfach gestrichen haben.
Es ist aber zugleich deutlich, daß über die Angemessenheit der Rezeption biblischer Texte nicht in isolierter Weise geurteilt werden kann, da eine solche Bewertung wiederum von anderen Faktoren, von anderen Rezeptions- und Traditionsvorgängen abhängig ist. So verstanden, nötigt die rezeptionsgeschichtliche Fragestellung auch zur Eröffnung eines Gesprächs über den angemessenen Deutehorizont der Texte und motiviert damit unter Umständen neue Rezeptionsstufen des Textes. So kann die exegetische Wissenschaft wieder eine Kommunikationsfähigkeit mit den anderen theologischen Disziplinen