Martin Rösel, «Wie einer vom Propheten zum Verführer wurde. Tradition und Rezeption der Bileamgestalt», Vol. 80 (1999) 506-524
The article attempts for the first time to trace the tradition of the seer Balaam (Num 2224) with the aid of questions asked by reception history. In contradistinction to previous works it becomes clear in this way that the differing positive or negative presentation of the figure of Balaam in texts dependent on Num 2224 can be explained above all by the attitude of the relevant recipient to the problem of the foreign in relation to the people of God. It becomes apparent that the method of reception history presents a significant supplement to exegetic tools, that makes possible fresh historical insights into the content and effect of biblical texts.
geben darf. Bileam wird also getötet, ohne daß konkret auf sein Tun Bezug genommen wird. Egal, ob er Israel fluchen oder segnen wollte; allein daß er Wahrsagerei betrieb, macht ihn den Fremdlingen gleich, die auszurotten sind.
Der letzte alttestamentliche Beleg für Bileam findet sich im späten Nehemiabuch (13,2): Hier wird der Text Dtn 23,5-6 ausdrücklich zitiert, daß Bileam von den Fremdvölkern gedungen wurde und Israel tatsächlich verfluchen wollte. Das ist Grund genug, um nach der Anhörung dieses Textes alles Mischvolk aus Israel auszusondern (Neh 13,3) und später das Land von allem Ausländischen zu reinigen (13,30). Bileam ist nun vom Propheten zum Prototypen des gefährlichen Fremden mutiert.
Der kurze Überblick hat gezeigt, daß es zwei Ausprägungen der Bileam-Tradition innerhalb der Hebräischen Bibel gibt: Nach der positiven, die in Micha 6 und den älteren Stufen von Num 2224 belegt ist, konnte sich Gott des fremdländischen Sehers als Werkzeug zu Israels Heil bedienen. In der negativen Sicht, die schon in der Eselinnen-Episode anklingt, wird Bileam als Seher in ausländischen Diensten wahrgenommen. So gerät er in den Sog der Ablehnung des Fremdländischen. Nach Dtn 23 hat er daher Israel nur unfreiwillig gesegnet. In einer weiteren Entwicklungsstufe wird Bileam selbst schuldig: Er wird zum Wahrsager (Jos 13) oder zum Verführer, der Israel zum Abfall von Gott anstachelte (Num 31)37. Die Spannung zwischen Universalismus und Partikularismus konnte offenbar nicht mehr ausgehalten werden. Einfacher gesagt: Was nicht sein kann, nämlich daß ein Ausländer Gutes tut, das darf auch nicht sein. So bestimmen die Vorurteile der Leser die Auslegung der Bibel, und "die Rezeption der Quellen schafft die Quellen der Rezeption"38.