Martin Leuenberger, «“Deine Gnade ist besser als Leben” (Ps 63,4).
Ausformungen der Grundkonstellation von Leben und Tod im alten
Israel», Vol. 86 (2005) 343-368
The present article investigates the basic constellation of life and death in Ancient
Israel. Significant concepts are found in Prov 3, the blessing texts from Chirbet el-
Qom and Ketef Hinnom, Ps 63 and Qoh 3,16-22. The basic constellation of life
and death is characterized by (1) the connection of life to YHWH, (2) the
asymmetry of life and death, (3) thematic aspects of life, which contain (a) the
vital well-being during this life, (b) the blessed life at the border to death, and
beyond that, (c) the connection to YHWH, (d) the elementary dimensions of eating,
drinking and joy.
“Deine Gnade ist besser als Leben†(Ps 63,4) 365
Zunächst aber zieht Kohelet in V. 22 sein persönliches Fazit: Die
Freude ist der ‘Anteil’ (ql,je) des Menschen (vgl. Gottesgeschenk
[µyhiúla‘ tT'm] V. 13), den ihm Gott gegeben hat. In welche Zukunft auch
'
immer “nach ihm (wyr;j}a')†(72) — zumal eine jenseits der Todesgrenze
— zu blicken, überfordert den Menschen schlichtweg und ist seine
Sache nicht (73).
Somit formuliert Koh hier und mehrfach ähnlich (74) auf der Basis
seiner Erfahrung — wodurch “das ‘Ich’ in eine kriteriale Rolle
gegenüber dem tradierten weisheitlichen Bildungsgut gerät†(75) —
eine kritische Anfrage an die genannten spätatl. Ausweitungen der
Leben-Tod-Grundkonstellation. Indem er die Akzentverschiebung ins
Jenseits, die auf der Schiene von Ps 63, Ps 49 und Ps 73 stattfindet
(und sich als die Gegenwart abwertende Vertröstung aufs Jenseits
missdeuten lässt), kritisch hinterfragt, vollzieht er in gewisser Weise
eine Rückbesinnung auf die klassische Form des Lebensver-
ständnisses: Das Leben wird wiederum konsequent auf das Diesseits
konzentriert und ist dem es begrenzenden Tod diametral entge-
gengesetzt. Die damit vollzogene Aufwertung der Gegenwart läuft auf
so etwas wie die Maxime ‘carpe diem’ heraus. Dabei ist sich Koh der
Unverfügbarkeit des sich jetzt ereignenden Lebens bewusst: Dass ein
Mensch Essen, Trinken und Freude hat im Leben, ist eine Gottesgabe
(vgl. 3,13 u.ö.). Denn, so 3,22, es gibt nichts Besseres, als sich zu
freuen: “Die Freude ist das ‘höchste Gut’ und der ‘Anteil’, den der
Mensch … erreichen kann†(76). Wie in der klassischen Sicht ist bei
Koh also wiederum das von Gott gegebene Leben — in Opposition
zum Tod — das höchste Gut. Inhaltlich hat es sich hingegen
verschoben auf die elementaren Vorgänge von Essen, Trinken und
(72) Dabei schillert m.E. der Zukunftsbegriff und ist im Kontext durchaus
auch auf die postmortale Zukunft hin offen (so A. VONACH, Nähere dich um zu
hören. Gottesvorstellungen und Glaubensvermittlung im Koheletbuch [BBB 125;
Berlin – Bodenheim 1999] 123; anders SCHELLENBERG, Erkenntnis, 103-104).
(73) Denn im “streng an empirisch beobachtbare Tatsachen gebunden(en)â€,
“innerweltlichen Rahmen allein kann man nach Qohelet über den Tod sprechen;
wer meint, diesen irdischen Bereich überschreiten zu können …, überschreitet die
dem menschlichen Erkennen gesetzte Grenze†(SCHELLENBERG, Erkenntnis, 103).
(74) Vgl. zu den übrigen ‘Todestexten’ T. ZIMMER, Zwischen Tod und
Lebensglück. Eine Untersuchung zur Anthropologie Kohelets (BZAW 286;
Berlin – New York, NY 1999) 45-50; SCHELLENBERG, Erkenntnis, 75-100.
(75) P. HÖFFKEN, “Das EGO des Weisen. Subjektivierungsprozesse in der
Weisheitsliteraturâ€, ThZ 41 (1985) 121-134, 125, vgl. 125-126 zu 3,16-22.
(76) KRÃœGER, Kohelet, 170.